Montag, 1. Oktober 2018

Der Heilige Gregor der Theologe († 25. Januar 390)
Über die Barmherzigkeit



Über die Liebe zu den Armen
(XIV. Rede)


1.

Nehmet die Rede über die Liebe zu den Armen nicht engherzig entgegen, meine Brüder und meine Genossen in der Armut! Arm sind wir nämlich alle und alle bedürfen wir der göttlichen Gnade, mag auch, wenn man einen kleinlichen Maßstab anlegt, der eine vor dem anderen etwas vorauszuhaben scheinen. Nehmet die Rede wohlwollend an, damit ihr die Schätze des Reichtums empfanget! Betet mit mir, damit wir euch reichlich spenden und eure Seele mit dem Worte nähren und den Hungrigen das geistige Brot brechen, indem wir gleich dem alten Moses Speisen regnen lassen und Engelsbrote verabreichen oder mit wenigen Broten Tausende in der Wüste sättigen, wie es später Jesus, das wahre Brot und die Quelle des wahren Lebens, getan hat.
Unter den verschiedenen Tugenden die vorzüglichste herauszufinden und einer einzelnen den Vorzug und Sieg zuzuschreiben, ist ebenso schwierig, als auf einer blumenreichen, duftenden Wiese festzustellen, welches die schönste und wohlriechendste Blume ist; denn bald zieht diese, bald jene Blume Geruchssinn und Augen an sich, um zum Pflücken einzuladen. Nach meiner Meinung ist bei der Bewertung folgendes zu beachten.


2.

Etwas Schönes sind „Glaube, Hoffnung und Liebe, diese Drei”(1 Kor 13,13). Zeuge des Glaubens war Abraham, der auf Grund des Glaubens gerechtfertigt worden war (Gen 15,6). Zeuge der Hoffnung waren Enos, welcher zuerst „gehofft hatte, den Herrn für sich anzurufen” (Gen 4,26 LXX), und alle Gerechte, welche um der Hoffnung willen Böses erduldet hatten. Zeuge der Liebe war der ehrwürdige Apostel, der um Israels willen sogar sich selbst verflucht hätte (Röm 9,3), und Gott selbst, der als Liebe bezeichnet wird. Etwas Schönes ist die Gastfreundschaft. Ein Beispiel hierfür ist der gerechte Lot, der Sodomite, aber nicht ein Sodomite im Benehmen, und unter den Sündern die Buhlerin Rahab, die aber nicht aus Schlechtigkeit Buhlerin war, da sie um der Gastfreundschaft willen gelobt und auch gerettet wurde. Schön ist die Bruderliebe, wie wiederum Jesus lehrt, da Er nicht nur den Menschen zum Guten erschaffen (Eph 2,10) und dem Staube das Ebenbild beigesellt hatte, damit es zum Besten führe und die himmlischen Güter vermittle, sondern da Er auch für uns Mensch geworden ist. Etwas Schönes ist es um die Langmut, wie wiederum Derselbe bezeugt, sofern Er gegen die, welche sich wider Ihn erhoben und Ihn vergewaltigt hatten, nicht nur nicht Legionen von Engeln erbat und nicht nur dem Petrus, der das Schwert gezogen hatte, Vorwürfe machte, sondern auch dem Verwundeten das Ohr heilte. Das gleiche Beispiel von Langmut gab später Stephanus, der Jünger Christi, der für die betete, welche ihn steinigten. Schön ist Sanftmut, welche nach den Berichten vor allem Moses (Num 12,3) und David (Ps 131,1) bekundeten und ihr Lehrer, Der nicht zankte und nicht lärmte und nicht auf den Straßen schrie (Is 42,2; 53,7) und sich denen, die Ihn fortschleppten, nicht widersetzte.


3.

Schön ist der Eifer, wie uns Phinees zeigt, der, um Israels Söhne von der Schmach zu reinigen, die Madianitin zugleich mit dem Israeliten durchbohrte (Num 25,7 ff), was ihm seinen Namen eintrug. Ein Beispiel von Eifer sind nach ihm die, welche erklärten: „Geeifert habe ich für den Herrn” (3 Kön 19,14) und „mit dem Eifer Gottes eifere ich für euch” (2 Kor 11,2) und „der Eifer für dein Haus verzehrt mich” (Ps 68,10). So sprachen sie nicht nur, so handelten sie auch. Schön ist körperliche Abtötung. Davon könnte dich Paulus überzeugen, der sich noch selbst züchtigte (1 Kor 9,27) und durch Israel jene schreckte, welche auf sich selbst vertrauen und ihrem Fleische schmeicheln, aber auch Jesus selbst, als Er fastete, Sich versuchen ließ und den Versucher überwand (Mt 4,11ff). Etwas Schönes ist es um das Beten und Wachen. Gott möge dich davon überzeugen, da Er wachte und betete, ehe Er litt (Mt 26,36). Schön ist Keuschheit und Jungfräulichkeit. Lasse dich von Paulus belehren, der darüber Anweisungen gibt und über Ehe und Ehelosigkeit entscheidet (1 Kor 7,25ff), aber auch von Jesus selbst, Der von einer Jungfrau geboren werden wollte, um einerseits die Geburt zu ehren, andererseits die Jungfräulichkeit zu bevorzugen. Schön ist Enthaltsamkeit. Davon möge dich David überzeugen, der, obwohl er Wasser aus der Zisterne von Bethlehem erhalten hatte, doch nicht trank, sondern das Wasser ausgoß, da er nicht mit fremdem Blute seinen eigenen Durst befriedigen wollte (2 Kön 23,15ff).


4.

Schön ist ein Leben in Abgeschiedenheit und Ruhe. Dies lehrt mich Elias auf dem Berge Karmel, Johannes in der Wüste oder Jesus auf dem Berge, auf den er sich bekanntlich oftmals zurückzog, um in der Einsamkeit mit sich zu verkehren. Schön ist Armut. Dies zeigt mir Elias, der bei einer Witwe sich erholte (3 Kön 17,9), Johannes, der sich mit Kamelhaaren bedeckte, Petrus, der, um sich zu nähren, für ein As Lupinen kaufte. Schön ist Demut. Die Beispiele hierfür sind zahlreich und überall zu finden. Vor allem ist zu erwähnen, daß der Erlöser und Herr aller sich nicht nur „bis zur Knechtsgestalt erniedrigte (Phil 2,7), nicht nur sein Antlitz der Schmach des Anspeiens aussetzte und, obwohl Er die Welt von Sünden reinigte, „Sündern gleichgehalten wurde” (Is 50,6; 53,12), sondern auch wie ein Sklave den Jüngern die Füße wusch. Schön ist die völlige Besitzlosigkeit und die Verachtung des Geldes, wie uns Zachäus und Christus selbst beweisen. Jener gab, als Christus bei ihm einkehrte, fast alles zum Opfer hin (Lk 19,8); Dieser aber erklärte dem Reichen, in solchem Verhalten liege die Vollkommenheit (Mt 19,21). Und - um mich kürzer zu fassen - etwas Schönes ist es um die Betrachtung (Theoria), etwas Schönes um die Betätigung. Die Betrachtung erhebt von der Erde und strebt zum Allerheiligsten und führt unseren Geist zu dem, was ihm verwandt ist; die Betätigung aber nimmt Christus auf, dient ihm und tut die Liebe in Werken kund.


5.

Jede der genannten Tugenden bildet einen Weg zum Heile und in irgendeine der ewigen, seligen Wohnungen. Wie es verschiedene Lebensberufe gibt, so gibt es bei Gott viele Wohnungen (vgl. Joh 14,2), welche je nach dem Verdienste des Einzelnen verteilt und zugewiesen werden. Mag einer diese oder jene Tugend, mag einer mehrere oder - wenn es möglich sein sollte - alle Tugenden pflegen, auf jeden Fall bleibe er nicht stehen, strebe vorwärts und trete in die Fußstapfen des kundigen, sicheren Führers, welcher auf engem Wege und durch schmale Pforte auf die breiten Gefilde der himmlischen Seligkeit leitet. Wenn wir es Paulus und Christus selbst glauben müssen, daß die Liebe das erste und größte Gebot, der Hauptinhalt des Gesetzes und der Propheten ist, dann erkläre ich die Liebe zur Armut, das Mitempfinden und Mitleiden mit dem Nächsten, als die größte Liebe. Durch gar nichts wird ja Gott so sehr geehrt wie durch Mitleid. Denn nichts ist Gott eigentümlicher als das Erbarmen, da „vor ihm Mitleid und Wahrheit einherschreiten” (Ps 88,15) und Ihm Erbarmen lieber ist als Verurteilung (vgl. Joh 8,1ff). Der, welcher gerecht vergilt und sich nach der Wage und nach den Gewichten erbarmt (vgl. Is 28,17 LXX), schenkt Seine Liebe keinem so sehr wie dem Barmherzigen.


6.

Unser Herz müssen wir allen Armen öffnen, gleichviel aus welchen Gründen sie in Not sind; denn das Gebot verlangt, sich zu freuen mit den Fröhlichen und zu weinen mit den Weinenden (Röm 12,15). Als Menschen müssen wir in zuvorkommender Weise Liebesdienste den Mitmenschen tun, mögen sie deren bedürfen, weil sie verwitwet oder verwaist sind oder weil sie aus dem Vaterlande verbannt sind, oder wegen der Grausamkeit der Herren, der Härte der Beamten, der Unbarmherzigkeit der Steuereinnehmer, der Blutgier der Räuber, der Habgier der Diebe oder wegen Konfiskation oder wegen Schiffbruch. Sie alle sind in gleicher Weise bemitleidenswert und blicken zu unseren Händen auf, wie wir zu den Händen Gottes, so oft wir etwas brauchen. Von jenen Unglücklichen sind die, welche unverdienter Weise zu leiden haben, noch bemitleidenswerter als die, welche an das Unglück gewöhnt sind. Ganz besonders müssen wir unser Herz denen öffnen, welche von der heiligen Krankheit (d.h. dem Aussatz) zugrunde gerichtet worden sind, selbst an Fleisch, Knochen und Mark - nach einer Drohung (vgl. Is 10,18) - zerfressen werden und von ihrem armseligen, schwachen und treulosen Körper verraten sind. Es entzieht sich meiner Kenntnis, wie ich mit diesem Fleische zusammengespannt wurde und wie ich, ein Ebenbild Gottes, mit dem Staube vermengt werde. Geht es dem Körper gut, dann führt er Krieg; wird er bekämpft, dann leidet er. Ich liebe ihn, weil er mein Mitsklave ist; ich wende mich von ihm ab, weil er mein Feind ist. Da er meine Fessel ist, fliehe ich ihn; da er mein Miterbe ist, verehre ich ihn. Wenn ich mich bemühe, ihn kaltzustellen, dann fehlt mir der Gehilfe, den ich brauche, um zum herrlichen Ziel zu gelangen; denn ich weiß, wozu ich erschaffen bin, und weiß, daß ich nur durch irdische Betätigung zu Gott emporsteigen kann.


7.

Ich behandle ihn mit Nachsicht, da er mein Genosse ist. Aber ich weiß nicht, wie ich seinen Angriffen entgehen kann oder wie ich, wenn ich von seinen Fesseln beschwert, niedergedrückt oder auf dem Boden niedergehalten werde, es machen soll, um nicht von Gott abzufallen. Der Körper ist ein freundlicher Feind und ein feindlicher Freund. Man fühlt sich verbunden und abgestoßen. Was ich fürchte, umarme ich, und was ich liebe, fürchte ich. Noch ehe ich den Kampf beginne, versöhne ich mich; noch ehe ich Frieden schließe, beginne ich die Feindschaft. Was will die Weisheit mit mir? Was für ein großes Geheimnis beobachten wir hier? Beabsichtigt etwa Gott, Dessen Anteil wir sind und von Dessen Höhen wir stammen, uns im Kampf und Streit mit dem Körper ständig zu zwingen, auf Ihn zu schauen, und uns durch die mit uns verbundene Schwachheit zum Idealismus anzuhalten, damit wir nicht wegen unserer Menschenwürde uns hochmütig erheben und nicht den Schöpfer verachten; und damit wir es einsehen, daß wir zugleich sehr hoch und sehr tief stehen, irdische und himmlische, vergängliche und unsterbliche Geschöpfe sind, Erben des Lichtes und des Feuers oder auch der Finsternis, je nachdem wir uns entscheiden. In genannter Weise sind Seele und Körper meines Erachtens zu dem Zwecke zusammengemischt, daß, wenn wir auf unsere Ebenbildlichkeit stolz sind, der Staub uns niederdrücke. Darüber mag jeder denken, wie er will; wir werden uns bei gegebener Gelegenheit noch darüber aussprechen.


8.

Brüder, was ich mir in meiner schmerzlichen Erregung über meine fleischliche Natur und aus Mitleid mit fremden Schmerzen zu sagen vorgenommen habe, wollen wir nun tun: Pflegen wir den Genossen und Mitsklaven! Wenn ich ihn auch wegen seiner Sündhaftigkeit angeklagt habe, so will ich mich doch seiner wie eines Freundes annehmen um Dessen willen, Der ihn mit meiner Seele verbunden hat. Ebenso wie für den eigenen Körper müssen wir für den Leib des Nächsten sorgen, mag er gesund sein oder ebenfalls an Krankheit dahinsiechen. Denn alle „sind wir eins in Christus” (Röm 12,5), ob reich oder arm, ob Sklave oder Freier, ob gesund oder krank ist; und Einer ist das Haupt aller, Christus, von Dem alles kommt. Was ein Körperteil dem anderen ist, ist der eine Mensch dem anderen, sind alle allen. Ereilt jemanden früher als uns das allgemeine Schicksal, krank zu werden, dann wollen wir ihm also unsere Aufmerksamkeit und unsere Sorge nicht entziehen. Die Freude über unser körperliches Wohlbefinden darf nicht größer sein als der Schmerz über das Elend der Brüder. In der Bruderliebe müssen wir die einzige Voraussetzung für unser leibliches und seelisches Wohl erblicken. Beginnen wir unsere Erwägungen!


9.

Manche verdienen unser Mitleid nur, weil sie arm sind; hier können vielleicht die Zeit, die Arbeit, ein Freund, ein Verwandter, veränderte Verhältnisse helfen. Andere sind ebenso, wenn nicht noch mehr bemitleidenswert, sofern sie infolge von Arbeitslosigkeit der notwendigen leiblichen Mittel beraubt sind und ihre Furcht vor dem Zusammenbruch immer noch größer ist als die Hoffnung auf Besserung der Verhältnisse, so daß ihnen die Hoffnung, das einzige Heilmittel für Unglückliche, wenig Hilfe bringen kann. Ein weiteres Übel, außer der Armut, ist die Krankheit; sie ist das gefürchtetste und schlimmste Übel, das von vielen auch bei Flüchen zunächst angewünscht wird. Ein drittes Übel besteht darin, daß man nicht besucht und nicht angeschaut werden darf, daß man geflohen und verabscheut wird und als Ekel gilt; noch schlimmer als die Krankheit selbst ist das Gefühl, wegen eines Unglückes auch noch gehasst zu werden. Ihr Leiden verursacht mir Tränen, und schon die Erinnerung daran erschüttert mich. Möchtet ihr von gleichen Stimmungen ergriffen sein, damit eure Tränen euch den Tränen entreißen! Ich weiß aber auch, daß von den Anwesenden all jene meine Empfindungen teilen, welche Christus und die Armut lieben und welchen Gott ein Herz geschenkt hat. An bitteren eigenen Erfahrungen fehlt es euch ja nicht.


10.

Mit eigenen Augen schauen wir ein schreckliches, erbarmungswürdiges Schauspiel, das nur der glaubt, der es selbst gesehen hat. Da sind Tote und Lebende, an den meisten Gliedern in einer Weise verstümmelt, daß man kaum erkennt, wer sie einmal waren oder woher sie stammen. Es sind eigentlich nur noch elende Überreste gewesener Menschen. Um erkannt zu werden, müssen sie Vater, Mutter, Geschwister und Heimat angeben und erklären: „So und so heißt mein Vater und meine Mutter, und dies ist mein eigener Name und du warst einst mein Freund und mein Verwandter.” So sprechen sie, da sie ja nichts Charakteristisches mehr an sich haben. Sie sind verunstaltete Menschen, die ihres Vermögens, ihrer Verwandten, ihrer Freunde, selbst ihres Körpers beraubt sind. Es sind die einzigen Menschen, welche sich bemitleiden und sich zugleich hassen. Sie wissen nicht, sollen sie diejenigen Körperteile mehr beklagen, die sie nicht mehr haben, oder diejenigen, welche ihnen noch geblieben sind; diejenigen, welche die Krankheit bereits aufgezehrt hat, oder diejenigen, welche für die Krankheit noch übrig geblieben sind. Die einen Glieder sind unter großen Schmerzen verzehrt worden; die anderen bleiben noch größeren Martern erhalten. Die einen sind dahingeschwunden, ehe sie das Grab schauen; die anderen wird niemand bestatten. Mag einer noch so gut und barmherzig sein, für diese Krankheit hat er absolut kein Herz; ihnen gegenüber allein haben wir vergessen, daß wir Fleisch sind und daß wir von einem erbärmlichen Körper umgeben sind. Wir sind so weit entfernt, unsere aussätzigen Verwandten zu pflegen, daß wir vielmehr glauben, wir seien in Sicherheit, wenn wir vor ihnen fliehen. Während man zu einem schon älteren Leichnam, der vielleicht bereits riecht, hingeht und den stinkenden Kadaver vernunftloser Tiere erträgt und es sich gefallen läßt, ganz beschmutzt zu werden, fliehen wir schleunigst in aller Herzlosigkeit vor den Aussätzigen, fast unwillig darüber, daß wir die gleiche Luft wie sie einatmen.


11.

Wer ist anhänglicher als ein Vater? Wer besorgter als eine Mutter? Aber auch ihr natürliches Empfinden hat Grenzen. Den Sohn, den der Vater gezeugt und erzogen hat, den er als seinen Augapfel erklärt, für den er schon oft und viel zu Gott gebetet hat, beklagt er zwar (wenn er von Aussatz befallen wird), aber gleichwohl jagt er ihn davon, teils freiwillig, teils gezwungen. Und eine Mutter gedenkt ihrer Schmerzen bei der Geburt (des nun an Aussatz erkrankten Kindes), ihr Herz zerreißt, erschütternd schreit sie zum Himmel, und ihr noch lebendes Kind, das sie ausgesetzt hat, beweint sie, wie wenn es schon gestorben wäre. „Armes Kind einer unglücklichen Mutter, - ruft sie - die Krankheit war so grausam, mein Recht auf dich mit mir zu teilen! O bedauernswertes Kind, o Kind, nicht mehr bist du zu erkennen, o Kind, nur mehr für Schluchten, für Berge, für Wüsten habe ich dich erzogen! Bei den Tieren wirst du hausen, Felsen werden dein Schutz sein. Nur noch die heiligsten unter den Menschen werden dich sehen.” Die Weherufe Hiobs (vgl. Hiob 3,11ff) macht sie sich zu eigen: „Warum wurdest du im Mutterschoße gebildet? Warum hast du den Schoß verlassen? Warum bist du nicht sofort gestorben? Warum sind sich nicht Tod und Geburt begegnet? Warum bist du nicht vor der Zeit abgegangen, ehe du noch die Leiden des Lebens kosten konntest? Warum hat dich der Schoß aufgenommen? Wozu hast du an den Brüsten gesogen, da du doch in Elend leben und ein Leben, das schlimmer ist als der Tod, führen sollst?” So klagt sie unter Strömen von Tränen. Auch umarmen möchte die Unglückliche ihr Kind, aber vor seinem Körper fürchtet sie sich, in ihm erblickt sie einen Feind. Nicht Verbrecher, sondern diese Aussätzigen werden vom ganzen Volke verflucht und verfolgt. Ist einer ein Mörder, dann wohnt man noch mit ihm zusammen, und mit einem Ehebrecher teilt man Haus und Tisch, einen Kirchenräuber macht man zum Freunde seines Lebens, und mit denen, die einem Böses angetan haben, schließt man ein Bündnis; aber von dem Leiden eines Menschen, der einem kein Unrecht getan hat, wendet man sich ab, als wäre es ein Verbrechen. Besser ist ein Verbrecher dran als ein Kranker. Den Herzlosen umarmen wir wie einen Edelmann; den Barmherzigen aber verachten wir wie einen Schuldbeladenen.


12.

Die Aussätzigen werden aus den Städten vertrieben, aus den Häusern, von den Marktplätzen, den Versammlungen, den Straßen, den Festlichkeiten und Gelagen und selbst - welch ein Jammer! - vom Wasser werden sie weggejagt. Nicht haben sie mit den übrigen Menschen Anteil an den sprudelnden Quellen; auch die Flüsse sollen von ihnen angesteckt werden. Das Ungeheuerlichste ist, daß wir sie wie Schuldbeladene fortjagen, sie dann aber wieder wegen ihrer Schuldlosigkeit an uns locken, allerdings ohne ihnen Wohnung oder die nötigen Nahrungsmittel oder ihren Wunden Heilungsmittel anzubieten, und ohne den Kranken nach Kräften schützende Kleidung zu gewähren. Tag und Nacht irren sie umher, arm und nackt und ohne Unterkunft. Ihre Krankheit tragen sie zur Schau, erzählen, wer sie einst waren, flehen zum Schöpfer. Mit ihren Gliedern helfen sie sich gegenseitig in ihrer Not aus. Sie ersinnen Lieder, um Mitleid zu wecken. Sie betteln um ein Stücklein Brot, um ein bißchen Fleisch und um einen zerlumpten Fetzen, damit sie ihre Blöße und ihre Geschwüre bedecken können. Als mitleidig gilt nicht der, welcher ihre Not lindert, sondern schon der, welcher sie nicht hart abweist. Die meisten der Kranken scheuen sich nicht einmal, die Festversammlungen zu besuchen; ihre Not treibt sie im Gegenteil geradezu in dieselben hinein. Ich rede hier von jenen öffentlichen, heiligen Versammlungen, welche wir aus seelischen Bedürfnissen eingeführt haben zur Feier eines Mysteriums oder wegen der Märtyrer, um durch Verehrung ihres Martyriums ihre Tugenden nachzuahmen. Da sie doch auch Menschen sind, schämen sich die Aussätzigen einerseits, in ihrem Elende vor Menschen zu erscheinen, und möchten am liebsten im Gebirge, in Schluchten und Wäldern und schließlich in Nacht und Finsternis verschwinden; doch andererseits treibt es diese elenden Jammergestalten immer wieder unter die Menschen. Und das ist wohl recht so. Denn sie sollen uns an unsere Schwachheit erinnern und davor bewahren, daß wir uns an die Gegenwart und das Sinnliche halten, als wenn es immer Bestand hätte. Die einen treibt es zu uns, um eine menschliche Stimme zu hören, die anderen, um ein menschliches Angesicht zu sehen; andere, um von denen, die im Überfluß leben, eine kleine Gabe zur Fristung des Lebens zu erhalten; alle kommen sie, um durch Offenbarung ihres Leids Linderung zu finden.


13.

Wer wird nicht erschüttert bei den Klagetönen ihrer Trauerchöre? Wer kann solches mit anhören, solches mit ansehen? Dort liegen die einen, durch die Krankheit schmachvoll vereinigt, beisammen, und jeder erzählt, um Mitleid zu finden, von seinem Elend etwas anderes. Gegenseitig erschweren sie sich noch ihr Schicksal; sind sie bedauernswert wegen ihres Leidens, so sind sie es noch mehr wegen ihres Mitleidens. Eine bunte Menge umsteht sie gaffend, um mit ihnen zu klagen - auf einige Zeit. Dort schleppen sich andere zu den Füßen der Menschen trotz Sonne und Staub, manchmal auch trotz heftiger Kälte und Regengüsse und stürmischer Winde; nur unserem Ekel vor ihnen verdanken sie es, wenn sie von unseren Füßen nicht getreten werden. Auf unsere heiligen Gesänge in der Kirche antworten sie mit schmerzlichen Bitten, und auf unsere geistlichen Lieder ist ihre Antwort: ergreifendes Wehgeschrei. Wozu soll ich euch, die ihr in festlicher Stimmung gekommen seid, all ihr Elend schildern? Vielleicht würde ich euch zu Tränen rühren, wenn ich über all ihre Not genau berichten würde, und der Schmerz würde die Festfreude verderben. Ich weiß ja, daß ich euch noch nicht dazu überreden könnte, gelegentliche Leiden höher als Freuden, Traurigkeit höher als Festesstimmung, lobenswerte Tränen höher als unschönes Lachen einzuschätzen.


14.

Dies ist das Los der Aussätzigen. Ja, es ist noch schlimmer, als ich es geschildert habe. Sie aber sind - ob ihr es wollt oder nicht - unsere Brüder vor Gott. Sie haben die gleiche Natur wie wir empfangen; sie sind aus der gleichen Erde gebildet, aus der wir zu Beginn erschaffen worden waren. Gleich uns sind sie aus Muskeln und Knochen zusammengesetzt; wie alle sind sie mit Haut und Fleisch umkleidet, wie einmal der treffliche Hiob (Hiob 10,11) in seinen Betrachtungen über das Leiden erklärt, um unsere sinnliche Natur bloßzustellen. Sie haben - um noch mehr zu sagen - sogar wie wir das göttliche Ebenbild erhalten und bewahren es vielleicht besser als wir, trotzdem sie äußerlich zugrunde gehen. Sie haben innerlich denselben Christus angezogen und sind mit dem gleichen Unterpfand des Geistes betraut worden wie wir. Sie haben an den gleichen Gesetzen, Lehren, Verträgen, Versammlungen, Geheimnissen und Hoffnungen teil wie wir. Auch für sie ist Christus gestorben, Der die Sünden der ganzen Welt hinweggenommen hat. Mit Christus sind sie Erben des himmlischen Lebens, mögen sie auch von diesem Leben gar nichts haben. Mit Christus werden sie begraben und mit Ihm werden sie auferstehen, „soferne sie nur mit ihm leiden, um auch mit ihm verherrlicht zu werden” (Röm 8,17).


15.

Was haben wir nun zu tun, die wir den großen, neuen Namen geerbt haben und uns nach Christus bezeichnen; wir, „das heilige Geschlecht, das königliche Priestertum, das überragende, auserwählte Volk (1 Petr 2,9), das nach guten, heilsamen Werken strebt (Tit 2,14); die Jünger des sanften, barmherzigen Christus, Der unsere Schwächen auf sich genommen, sich bis zu unserem Staube erniedrigt und sich unseretwegen der Armut dieses Fleisches und des irdischen Zeltes unterworfen hat, Der aus Liebe zu uns leiden und dulden wollte, damit wir durch seine Gottheit reich würden (vgl. 2 Kor 8,9)? Was ist unsere Aufgabe gegenüber einem solchen Vorbilde der Herzensgüte und des Mitleids? Was sollen wir über die Aussätzigen denken und was sollen wir ihnen gegenüber tun? Dürfen wir sie verachten, vernachlässigen? Sollen wir sie verlassen wie Tote, wie Geächtete, wie äußerst gefährliche Schlangen und andere Tiere? Durchaus nicht, meine Brüder! Dies entspräche nicht unserer Würde als Zöglinge Christi, des guten Hirten, Der das Verirrte zurückführt, das Verlorene aufsucht, das Schwache stärkt. Dies entspräche aber auch nicht unserer menschlichen Natur, welche, da sie von gleichem Elende bedroht ist, zu Güte und Barmherzigkeit erzogen wird und Mitleid zum Gesetze gemacht hat.


16.

Sollen wir, während diese unter freiem Himmel dahinsiechen, in glänzendsten, mit verschiedenen Steinen geschmückten Häusern wohnen, welche in Gold und Silber, in Mosaik und bunten Gemälden leuchten und die Augen durch den Reiz täuschen? Sollen wir solche Häuser bewohnen? Sollen wir sie bauen? Doch für wen? Wir bauen sie vielleicht gar nicht für unsere Erben, sondern für Fremde und Ausländer, welche uns wohl nicht einmal lieben, sondern, was das schlimmste ist, uns mit all ihrem Hasse und Neide verfolgen. Während die Aussätzigen in abgenutzten, zerrissenen Lumpen frieren und vielleicht selbst daran Mangel leiden - sollen wir in weichen, wallenden Kleidern und in luftigen Geweben aus Leinen und Seide schwelgen, von welchen die einen nicht so sehr ein Schmuck, als vielmehr eine Schande sind, als was ich alles Überflüssige und Unnütze bezeichne, und von welchen die anderen in Kästen aufbewahrt werden, um uns unnütze, zwecklose Sorgen zu machen und von Motten und der alles tilgenden Zeit verschlungen zu werden? Selbst die notwendige Nahrung fehlt jenen. Hier Schwelgerei, dort Elend! Vor unseren Türen liegen sie, erschöpft und hungrig. Ihr Körper hat nicht die Kraft, zu betteln. Es mangelt ihnen die Stimme, um zu klagen. Es fehlen ihnen die Hände, um zu flehen; die Füße, um da hinzugehen, wo man etwas hat; die Kraft der Lunge, um ihre Klagelieder ertönen zu lassen. Das schwerste Unglück nehmen sie am leichtesten: für ihre Blindheit sind sie dankbar, weil sie ihnen ihr Elend verhüllt.


17.

Während jene in solchem Elend leben, sollen wir in aller Pracht auf hohem, erhabenem Lager mit reichlichen Decken, die man nicht berühren darf, ruhen, um uns schon aufzuregen, wenn wir nur die flehende Stimme der Kranken vernehmen? Unser Boden muß von Blumen duften, oftmals selbst dann, wenn nicht die Zeit der Blumen ist. Unser Tisch muß mit den wohlriechendsten kostbarsten Salben übergossen sein, damit wir noch mehr verweichlicht werden. Knaben müssen aufwarten. Die einen von ihnen stehen in Reih und Glied, nach Mädchenart tragen sie langes Haar und Simpelfransen und sind selbst lüsternen Augen zuviel geschmückt. Andere halten so zierlich und zugleich so sicher als nur möglich mit ihren Fingerspitzen die Becher oder erregen geschickt über den Häuptern mit ihren Fächern Lüftchen und geben durch die Bewegung ihrer Hände den Fleischmassen Abkühlung. Ferner muß die Tafel mit Speisen überladen sein; alle Elemente - Luft, Erde und Wasser müssen uns reichlich ihre Gaben spenden. Wir wollen von den Kunstwerken der Köche und Speisemeister erdrückt werden; um die Wette sollen sich alle bei dem gierigen, undankbaren Magen einschmeicheln, bei dieser schwerfälligen Last, dem Unheilstifter, dem unersättlichen, unverlässigsten Tiere, das zugleich mit den verdauten Speisen dem Untergange geweiht ist. Während die Aussätzigen es als Glück betrachten würden, wenigstens genug Wasser zu haben, trinken wir Wein bis zur Betrunkenheit und in unserer Ausschweifung noch darüber hinaus und weisen die einen Weine zurück, um andere wegen ihrer Blume anzuerkennen und sie weise zu loben und es als Mangel zu bezeichnen, wenn nicht außer den einheimischen Weinen gleichsam als Krone des Ganzen noch eine berühmte ausländische Marke vorgesetzt wird. Wir wollen Feinschmecker und Lebemenschen sein oder heißen und schämen uns fast, wenn wir nicht als schlecht, oder nicht als Sklaven der Bäuche und anderer Organe gelten.


18.

Warum wollen wir solches Leben, meine Freunde und Brüder? Warum leiden wir unsererseits seelisch an einer Krankheit, die noch viel schlimmer ist als körperliches Leiden? Die eine Krankheit ist doch unfreiwillig, die andere aber freiwillig; die eine hat mit diesem Leben ihr Ende, die andere begleitet uns, wenn wir diese Welt verlassen; die eine findet Mitleid, die andere Haß - wenigstens bei den Verständigen. Warum helfen wir nicht der Natur, solange wir noch Zeit haben? Warum bedecken wir, die wir doch selbst Fleisch sind, nicht die Not des Fleisches? Warum schwelgen wir beim Unglück der Brüder? Es sei mir fern, mich zu bereichern, während diese darben; oder mich wohl zu fühlen, solange ich ihre Wunden nicht lindern kann; oder mich zu sättigen und einzuhüllen und mich gemütlich unter einem Dache niederzulassen, solange ich ihnen nicht Brot, genügend Kleidung und Erholung unter meinem Dache geben kann. Entweder müssen wir alles Christus zuliebe hingeben, um mit dem Kreuze beladen, ihm aufrichtig zu folgen, und leicht und frei, von nichts niedergedrückt, in den Himmel zu folgen und durch Demut erhöht, und durch Armut bereichert, gegen alles Christus einzutauschen; oder wir müssen unseren Besitz mit Christus teilen, um ihn durch Anteilnahme der Armen zu einem guten Besitz zu machen und ihn so gewissermaßen zu heiligen. Für mich mag ich säen, doch andere sollen mit mir die Früchte teilen. Mit Hiob will auch ich das Wort sprechen: „Statt Weizen mögen Disteln, statt Gerste Dornen bestimmt sein” (Hiob 31,40); versengender Wind möge kommen und Wirbelsturm möge meine Arbeiten erfassen, so daß ich mich umsonst geplagt habe; noch in dieser Nacht soll meine Seele von mir gefordert werden, auf daß ich Rechenschaft gebe wegen meiner Habsucht, wenn ich Scheunen baue und Schätze sammle für den Mammon!


19.

Sollen wir nicht endlich einmal zur Besinnung kommen? Wollen wir nicht unsere Gefühllosigkeit - um nicht zu sagen: unsere Herzlosigkeit - ablegen? Wollen wir nicht ernstlich erwägen, was es um den Menschen ist? Wollen wir nicht infolge der Leiden der Mitmenschen unsere eigene Sache richtig bestellen? Alles Menschliche ist seinem Wesen nach unbeständig, wankend, ungenügend, veränderlich. Unser ganzes Leben dreht sich wie im Kreise und verändert sich bald nach dieser Richtung, bald nach jener, oft an einem einzigen Tage, manchmal schon in einer einzigen Stunde. Eher kann man den unsicheren Winden und den Spuren eines Schiffes auf dem Meere, und den täuschenden, kurzen Träumen der Nacht, und den Sandzeichnungen spielender Kinder vertrauen als dem Glücke der Menschen. Weise sind die, welche aus Mißtrauen gegenüber der Gegenwart in der Zukunft Schätze suchen und wegen der Unbeständigkeit und Unsicherheit des menschlichen Glückes die Barmherzigkeit lieben, die nicht zu Fall kommt. Von drei Vorteilen gewinnen sie auf jeden Fall wenigstens einen: Entweder geht es ihnen immer gut, da Gott oft die Frommen auch mit irdischen Gütern beschenkt, um durch seine Güte zum Mitleid aufzufordern; oder, wenn es ihnen schlecht geht, finden sie Trost und Kraft in Gott, da nicht Sündhaftigkeit, sondern Gottes Ratschluß ihr Leid veranlaßt hat; oder endlich haben sie das Recht, von den Glücklichen Barmherzigkeit zu fordern, da sie selbst, als sie noch glücklich waren, den Notleidenden Barmherzigkeit erwiesen hatten.


20.

„Nicht rühme sich der Weise seiner Weisheit, sagt der Prophet (Jer 9,23), noch der Reiche seines Reichtums, noch der Starke seiner Kraft,” mögen sie auch den Gipfel der Weisheit oder des Reichtums oder der Macht erstiegen haben! Ich will noch die weiteren Mahnungen beifügen: Nicht rühme sich der Berühmte seines Ruhmes, nicht der Gesunde seiner Gesundheit, nicht der Schöne seiner Gestalt, nicht der junge Mensch seiner Jugend, nicht - um es kurz zu sagen - rühme sich einer in dem, was der Welt rühmenswert erscheint! „Wer sich rühmt, rühme sich allein Gott zu kennen” (Jer 9,24) und ihn zu suchen, mit den Leidenden Mitleid zu haben und sich Schätze für die Zukunft zu sammeln! Während das Übrige unbeständig und vergänglich ist und wie im Würfelspiel bald diesem, bald jenem zufällt und keiner es so sehr besitzt, daß er es nicht mit der Zeit, oder infolge von Mißgunst verlieren könnte, sind diese Vorzüge beständig und bleibend, ohne jemals im Stiche zu lassen und zu entschwinden, und die Hoffnungen zu täuschen. Alle irdischen Güter scheinen mir deshalb unzuverlässig und undauerhaft zu sein, damit wir nach einer - wenn irgendwo, gerade hierin - trefflichen Einrichtung des schöpferischen Logos und der alle Vernunft übersteigenden Weisheit durch die sichtbaren Dinge, - wenn sie bald diesen, bald jenen Wechsel erleiden, sich auf und nieder bewegen und drehen und, noch ehe sie erfaßt werden, schon wieder entrinnen und entfliehen - verhöhnt und verspottet werden und durch Erkenntnis ihrer Unbeständigkeit und Unsicherheit uns veranlaßt sehen, uns der Zukunft zuzuwenden. Hätte unser Glück Bestand, was wäre denn die Folge gewesen, da wir ja doch, trotz der Unbeständigkeit des Glückes, schon so sehr an ihm hängen und uns von den Freuden und Täuschungen des Glückes so sehr knechten lassen, daß wir dieses Leben für das beste und höchste halten - obwohl wir doch gelernt haben, und es glauben, daß wir nach Gottes Ebenbild, das im Himmel ist und zu sich hinaufzieht, erschaffen worden sind.


21.

„Wer ist weise und wird dies verstehen?” (Hos 14,10). Wer eilt an dem Vergänglichen vorüber? Wer hält sich an das, was bleibt? Wer glaubt an das Schwinden der Gegenwart und an den Bestand dessen, was wir hoffen? Wer unterscheidet Sein und Schein, um dem einen zu folgen und das andere zu verachten? Wer hält auseinander Bild und Wahrheit, irdische Wohnung und himmlische Stadt, Fremde und Heimat, Finsternis und Licht, Schmutz des Abgrundes und heiliges Land, Fleisch und Geist, Gott und weltliche Herrscher, Todesschatten und ewiges Leben? Wer erkauft mit der Gegenwart die Zukunft, mit dem vergänglichen Reichtum den unvergänglichen, mit dem Sichtbaren das Unsichtbare? Selig, wer hier auseinanderzuhalten und zu scheiden vermag durch das Schwert des Geistes, welches das Bessere von dem Minderen trennt. „Er bereitet Aufstiege in seinem Herzen”, wie irgendwo der treffliche David sagt (Ps 83,6). Er entkommt so gut wie möglich diesem Tränentale und sucht das, was oben ist. Mit Christus ist er der Welt gekreuzigt, steht mit Christus auf und fährt mit Christus zum Himmel als Erbe eines nicht mehr vergänglichen und trügerischen Lebens, wo keine bissige Schlange mehr auf dem Wege ist, die der Ferse nachstellt und deren Haupt zertreten wird (Gen 3,15). Der erwähnte David bezeichnet als Herold mit gewaltiger Stimme von hoher, öffentlicher Warte uns Überlebende als schwerfällige Menschen, welche die Lüge lieben, und gibt uns die schöne Mahnung, wir sollen uns nicht allzusehr an das Sinnliche halten und nicht glauben, in der Sättigung mit vergänglichem Getreide und Weine, oder in Niederem liege all unser irdisches Glück (Ps 4,3.8). Den gleichen Gedanken vertritt wohl auch der selige Michäas, wenn er gegen die auf dem Boden kriechenden, scheinbaren Güter predigt und erklärt: „Nahet euch den ewigen Bergen! Stehe auf und wandle; denn nicht hier ist deine Ruhe!” (Mi 2,9f). Es sind dies fast die gleichen Worte, welche unser Herr und Erlöser sprach, als Er aufforderte: „Steht auf! Wir wollen von hier gehen!” (Joh 14,31). Mit diesen Worten hat Jesus nicht, wie man glauben könnte, nur die Jünger Seiner Zeit von einem bestimmten Platze abgerufen, sondern Er zieht damit stets alle Seine Jünger von der Erde und dem irdischen Wege zum Himmel und dem Himmlischen hin.


22.

Hören wir also nunmehr auf den Logos! Suchen wir unsere Ruhe im Jenseits! Werfen wir die Schätze dieses Lebens von uns! Was an ihnen gut ist, wollen wir uns allein aneignen. Durch Almosen wollen wir unsere Seele retten. Von unserem Besitze wollen wir den Armen mitteilen, um im Jenseits reich zu werden. Gib auch der Seele etwas, nicht bloß dem Leibe! Gib auch Gott etwas, nicht bloß der Welt! Entziehe etwas dem Bauche und weihe es dem Geiste! Raube etwas dem Feuer und bewahre es in Sicherheit, fern von dem verzehrenden Feuer der Hölle! Entreiße es dem Tyrannen und vertraue es dem Herrn an! „Gib Anteil den Sieben,” d.h. diesem Leben, „aber auch den Acht” (Ekkle 11,2), d.h. dem Leben, das uns später aufnehmen wird! Gib Dem, von Dem du vieles hast! Gib alles Dem, Der dir alles geschenkt hat! Niemals wirst du Gott an Freigebigkeit übertreffen, wenn du auch alles hingibst und dich selbst dazu. Gott sich hinzugeben - selbst dies ist ja ein Geschenk Gottes. Wieviel du auch opfern magst, immer ist das noch mehr, was dir übrig bleibt. Und nichts von dem, was du schenkst, gehört dir; denn alles hast du von Gott. Wie es unmöglich ist, über seinen eigenen Schatten hinaus zu kommen, da er, sooft wir vorwärts gehen, nachschleicht bzw. immer vorauseilt; und wie die Körpergröße sich nicht über das Haupt erheben kann, da es stets den Körper überragt - so können wir Gott nicht durch unsere Geschenke überbieten. Denn nicht geben wir etwas, was Ihm nicht gehört; nicht übertreffen wir Seine Freigebigkeit.


23.

Erkenne es, wer es dir gegeben hat: daß du bist, daß du atmest, daß du denkst, daß du - was das Höchste ist - Gott erkennst, daß du das himmlische Reich, die Gleichstellung mit den Engeln, das Schauen der Herrlichkeit erhoffst, welches jetzt noch in Spiegeln und Rätseln erfolgt, dereinst aber vollkommener und reiner sein wird! Erkenne, wer es dir gegeben hat, daß du Gottes Sohn, Erbe Christi und - um ein kühnes Wort zu gebrauchen - Gott selber bist! Woher kommt dir all das, wer hat es dir gegeben? Oder - um von dem Geringeren und dem Sichtbaren zu reden - wer hat dir die Möglichkeit gegeben, die Schönheit des Himmels zu schauen, den Wandel der Sonne, die Scheibe des Mondes, die Zahl der Sterne; die hier überall sich offenbarende, der Leier gleiche Harmonie und Ordnung; den Ablauf der Stunden, den Wechsel der Jahreszeiten, den Kreislauf der Jahre, die gleiche Verteilung von Tag und Nacht, die Erzeugnisse der Erde, das Luftmeer; die weite Fläche des bald entfesselten, bald ruhigen Meeres; die Tiefe der Flüsse und die Strömungen der Winde? Wer gab dir die einen Tiere zur Zähmung und Dienstbarmachung, die anderen zur Nahrung? Wer hat dich zum Herrn und König über die ganze Erde aufgestellt? Wer hat - um nicht auf Einzelheiten einzugehen - den Menschen den Vorrang in allem verliehen? Ist es nicht Der, Welcher jetzt von dir vor allem und für alles Barmherzigkeit verlangt? Nachdem wir von Ihm so vieles bereits empfangen haben und noch erwarten, müssen wir uns da nicht schämen, daß wir Gott nicht einmal das eine Opfer, die Barmherzigkeit, bringen wollen? Er hat uns von den Tieren geschieden und uns allein von den irdischen Geschöpfen mit Vernunft ausgezeichnet, wir aber möchten uns zu Tieren machen und sind von der Sinnenlust so sehr verdorben und von solchem Wahnsinn - oder wie ich mich ausdrücken soll - ergriffen, daß wir schon, wenn wir nur Gerstenbrei und Kleie haben, mögen sie auch vielleicht nicht einmal ehrlich erworben sein, glauben, wir seien bessere Menschen als die Aussätzigen. Wie es in alter Zeit neben den gewöhnlichen Menschen Riesen gegeben haben soll, so wollen wir gegenüber den Aussätzigen die Riesen und die Übermenschen sein gleich einem Nimrod (Gen 10,8) oder dem Geschlechte des Enak (Num 13,28), welches die Israeliten seinerzeit bedrängt hatte, oder gleich denen, durch deren Schuld die Sintflut die Erde vernichtet hatte. Während unser Herr und Gott es nicht verschmäht, Sich unseren Vater nennen zu lassen, wollen wir nicht einmal von unseren Verwandten etwas wissen.


24.

Meine Freunde und Brüder, wir wollen keineswegs schlechte Verwalter der uns anvertrauten Güter sein, auf daß wir nicht die Worte Petri zu hören bekommen: „Schämet euch, fremdes Eigentum zurückzubehalten, ahmt Gottes Gerechtigkeit nach, und keiner wird arm sein.” Während andere unter der Armut zu leiden haben, wollen wir uns nicht durch Aufhäufen und Aufbewahren von Schätzen Leiden bereiten! Denn nicht soll uns der treffliche Amos die bitteren Vorwürfe und Drohungen zurufen müssen: „Wohlan, die ihr sprechet: Wann ist der Neumond vorüber, um verkaufen zu können; wann ist der Sabbat zu Ende, um unsere Schätze feilzubieten?” (Am 8,5) und nicht die weiteren Worte, womit der Prophet den Zorn Gottes denen androht, welche eine große und eine kleine Waage führen. Nicht soll der treffliche Michäas (Irrtümlich steht Michäas statt Amos.) etwa auch an uns die Lüsternheit bekämpfen müssen, denn Überfluß erzeugt Ausgelassenheit. Nicht soll er tadeln müssen, daß wir auf elfenbeinernen Ruhebetten schwelgen, uns mit den besten Salben verweichlichen, uns mit den zartesten Kälbern und den Zicklein von der Weide mästen und der Instrumentalmusik Beifall klatschen, und daß wir gar noch glauben, solches habe Wert und Bestand. Doch vielleicht hält der Prophet solche Genüsse noch nicht für so schlimm, als wenn wir in unserem Wohlleben mit den Leiden Josephs kein Mitleid haben; außer der Unmäßigkeit tadelt er nämlich die Unbarmherzigkeit (Am 6,4-6). Vor solchem Benehmen und solcher Ausschweifung wollen wir uns jetzt hüten, nicht wollen wir also die Güte Gottes verachten, Welcher auf solche Weise zum Zorn gereizt wird, mag Er auch Seinen Zorn der Sünde nicht auf den Fuß und augenblicklich folgen lassen.


25.

Wir wollen dem obersten und ersten Gesetze Gottes folgen. Gott aber lässt über Gerechte und Sünder regnen und über alle in gleicher Weise seine Sonne aufgehen; Er hat allen, die auf dem Lande leben, das freie Land, die Quellen, die Flüsse und die Wälder; den Vögeln die Luft und den Wassertieren das Wasser bereitet. Nicht kargend spendete Er allen den ersten Lebensunterhalt - der nicht beschlagnahmt, durch kein menschliches Gesetz eingeschränkt und nicht abgemessen wird; Er hat ihn allen gemeinsam und reichlich und ohne irgendwelchen Abzug gegeben. Er wollte durch die Gleichheit der Gabe die Gleichheit der Geschöpfe betonen; Er wollte den Reichtum Seiner Güte offenbaren. Wenn aber Menschen Gold und Silber, alle möglichen weichlichen, überflüssigen Kleider und glänzende Edelsteine oder dgl. Dinge verwahren, durch welche Kriege, Revolutionen und schlimmste Tyrannei veranlaßt werden - dann heben sie in ihrer Torheit den Kopf hoch, künden armen Verwandten das Mitleid und weigern sich in ihrer Ungeschliffenheit und Albernheit, mit ihrem Überfluß die Not zu unterstützen; dann wollen sie nicht einmal einsehen, daß Armut wie Reichtum, die sog. Freiheit wie die Knechtschaft, und derartige Begriffe, als gemeinsame Krankheit zugleich mit der Sünde - als deren Erfindungen -, erst später im Menschengeschlechte Eingang erhalten hatten. „Von Anfang an war es jedoch”, wie es heißt (Mt 19,8), „nicht so.” Vielmehr hat Der, Welcher den Menschen am Anfang erschaffen hatte, ihn frei und selbständig ausgesandt, nur dem Gesetze des Gebotes unterstellt und ihn mit dem Reichtum paradiesischer Wonne ausgestattet; in dem einen ersten Menschen hat Er auch dem übrigen Menschengeschlechte diese Gaben bestimmt und geschenkt. Nur dem, der das Gebot hielt, war Freiheit und Reichtum verliehen; der Übertretung aber folgten Armut und Knechtschaft.


26.

Seitdem Neid und Streitsucht; und die listige Gewalt der Schlange, welche stets durch den Reiz der Sinnlichkeit zu verführen, und die Stärkeren gegen die Schwächeren aufzustacheln weiß, sich eingeschlichen haben - ist die Einheitlichkeit in Verschiedenheiten zerrissen und der Adel der Natur durch die Habsucht unter Zuhilfenahme despotischer Gesetze zerschnitten. Achte auf die anfängliche Einheit, nicht auf die spätere Zerrissenheit; auf das Gesetz des Schöpfers, nicht auf das des Tyrannen! Hilf, so gut du kannst, der Natur; ehre die ursprüngliche Freiheit, habe acht auf dich selbst, verhülle dem Geschlechte die Schmach, unterstütze die Kranken, tröste die Notleidenden! Bist du gesund und reich, dann lindere die Not des Kranken und Darbenden! Bist du selbst nicht gefallen, dann hilf dem in seiner Not, der gefallen ist und in Bedrängnis lebt! Bist du vergnügt, dann stehe dem Trostlosen bei; bist du mit Gütern gesegnet, dann erbarme dich dessen, der im Unglück schmachtet! Zeige dich Gott dafür dankbar, daß du zu denen gehörst, denen es gut geht, und nicht zu denen, die der Wohltaten bedürfen; daß du nicht auf fremde Hände zu schauen brauchst, sondern vielmehr andere auf die deinigen schauen! Dein Reichtum soll nicht bloß in Hab und Gut, sondern auch in Frömmigkeit; nicht nur in Gold, sondern auch in Tugend - ja eigentlich in dieser allein bestehen! Suche durch Wohltun die Ehre des Nächsten zu übertreffen! Ahme Gottes Erbarmen nach und werde für den Notleidenden ein Gott!


27.

Durch nichts hat der Mensch so sehr an Gott Anteil als durch das Wohltun, mag der eine auch mehr, der andere weniger Wohltaten spenden; jeder verfährt, wie ich glaube, nach seinen Kräften. Wenn Gott den Menschen erschaffen und nach seiner Verstoßung wieder aufgenommen hat, dann verachte auch du nicht den, der gefallen ist! Gott hat sich des gefallenen Menschen mit vollem Erbarmen angenommen, indem Er ihm außer allem anderem das Gesetz (des Moses), die Propheten und zuvor schon als Richter das ungeschriebene Gesetz gegeben hat - um ihn zurechtzuweisen, zu mahnen, zu erziehen; und indem Er schließlich sich selbst als Sühnopfer für das Leben der Welt hingegeben und Apostel, Evangelisten, Lehrer und Hirten, sowie Heilungen, Wunder, Rückkehr zum Leben, Befreiung vom Tode, Sieg über den Sieger, einen schattenhaften und einen wahren Bund, die Gaben des Heiligen Geistes und die Geheimnisse des Neuen Bundes verliehen hat. Du aber, fähig, sogar seelische Wohltaten zu spenden, da Gott, wenn du nur guten Willen hast, dich auch hierin reich gemacht hat - unterlasse es nicht, dem Notleidenden auch seelisch zu helfen! Gib die notwendigsten Gaben vor allem dem, der dich darum bittet; erweise dich aber auch, ehe du gebeten wirst, den ganzen Tag barmherzig - und leihe das Wort aus, um es eifrig mit Zins zurückzufordern - d.h. von dem Profit, welchen der Schuldner stets von dem Worte hat, etwas einzuverlangen, damit du allmählich die Samen des religiösen Lebens mehrest! Willst du nicht das Notwendigste spenden, dann gib das weniger Notwendige und Geringere, soweit du darüber verfügst! Bringe Hilfe, verabreiche Nahrungsmittel, schenke ein abgetragenes Kleid, gib Arzneimittel, verbinde die Wunden, erkundige dich nach den Unglücklichen, ermuntere zur Geduld; fasse Mut, gehe selbst zu den Leuten! Du erniedrigst dich dadurch nicht, du wirst nicht angesteckt werden, wenn auch übertrieben ängstliche Menschen dies meinen, welche sich durch dummes Geschwätz betören lassen - oder vielmehr, weil sie für ihre Weichlichkeit und Gottlosigkeit eine Entschuldigung brauchen, zur Feigheit, als wäre sie etwas Großes und Weises, ihre Zuflucht nehmen. Lasse dich von der Vernunft und von den Kindern der Ärzte und von den Wärtern überzeugen, welche mit den Kranken zusammenwohnen; denn von diesen ist noch keiner trotz der Krankenpflege umgekommen. Mag auch der Krankendienst etwas Abstoßendes und Abschreckendes haben - aber du, Diener Christi, der du Gott und die Menschen liebst, darfst dir nichts Unwürdiges zuschulden kommen lassen. Fasse Mut im Glauben! Das Mitleid siege über die Feigheit, die Furcht Gottes über die Ängstlichkeit! Das religiöse Empfinden darf keine fleischlichen Einwände kennen. Den Bruder darfst du nicht verachten, an ihm nicht vorübergehen; nicht darfst du dich von ihm abwenden, als wäre er belastet, unrein oder sonst etwas, das man fliehen und verfluchen muß! Er ist ein Glied von dir, wenngleich er vom Unglück niedergebeugt ist. Der Arme ist dir als einem Gotte anvertraut, magst du auch hochmütig an ihm vorüber eilen. Vielleicht vermag dieser Gedanke dich zu erweichen. Ein Vorbild der Nächstenliebe ist dir gegeben, mag auch der Fremde (d.h. der Widersacher) dich davon abhalten, das gute Vorbild nachzuleben.


28.

Jeder, der mit dem Schiffe fährt, ist dem Schiffbruche nahe und zwar um so mehr, je kühner seine Fahrt ist. Und jeder, der mit dem Leibe umgeben ist, ist den körperlichen Leiden nahe und zwar um so mehr, je aufrechter er einherschreitet und je weniger er auf die achtet, welche vor ihm liegen. Solange du mit günstigem Winde fährst, reiche dem Schiffbrüchigen die Hand; solange du glücklich und reich bist, bringe den Leidenden Hilfe! Warte nicht so lange, bis du an dir selbst erfährst, wie schlimm es ist, unbarmherzig behandelt zu werden - und wie angenehm es ist, wenn sich die Herzen den Notleidenden öffnen! Veranlasse Gott nicht, daß Er Seine Hand gegen die erhebe, welche ihren Nacken hochhalten und an den Armen vorüber eilen! Lerne vom Unglück des Nächsten! Gibst du dem Dürftigen auch nur weniges, es ist nicht wenig für den, dem es an allem gebricht, aber auch nicht in den Augen Gottes, soferne es deinen Mitteln entspricht. Hast du keine große Gabe, dann zeige guten Willen! Hast du nichts, dann schenke deine Tränen! Barmherzigkeit, die von Herzen kommt, ist große Beruhigung für den, der im Unglück ist. Aufrichtiges Mitleid ist große Erleichterung im Elend. O Mensch, der Mensch hat nicht weniger Wert als das Tier, welches du, wie dir das Gesetz befiehlt (Dtn 22,1ff), wenn es in eine Grube gefallen ist, herausziehen, und wenn es sich verirrt hat, zurückführen mußt. Sollte in dem Befehle des Gesetzes noch ein geheimnisvollerer und tieferer Sinn verborgen sein, da oftmals im Gesetze noch ein anderer, tieferer Gedanke liegt, - dann kommt es nicht mir zu, ihn zu verstehen, sondern dem Geiste, der alles erforscht und erkennt. Soweit ich den Gesetzesbefehl erfasse und verstehe, will er, daß wir vom Mitleid im Kleinen zum Vollkommeneren und Höheren fortschreiten. Wenn schon Mitleid gegen vernunftlose Wesen verlangt wird, wie groß sollte dann erst die Liebe zu denen sein, welche mit uns Geschlecht und Ehre teilen!


29.

Zur Barmherzigkeit fordern uns die Vernunft, das Gesetz und alle gerechten Menschen auf; denn diese schätzen es höher, Gutes zu tun, als Gutes zu empfangen; und wollen lieber Barmherzigkeit erweisen, als Gewinne machen. Was sagst du über unsere Mönche? Nicht will ich sprechen von den Außenstehenden, welche Götter erfinden, die den Patron ihrer Leidenschaften spielen müssen, und welche dem Kerdoos den ersten Platz anweisen; ja welche, was noch schlimmer ist, da und dort bestimmen, man müsse gewissen Dämonen Menschen opfern, und Grausamkeit als Gottesdienst ansehen und sich nicht nur selbst über solche Opfer freuen, sondern auch als sündhafte Priester und als Diener der Sünde diese Freuden ihren Göttern zuschreiben. Es ist zum Weinen, daß es sogar unter uns Leute gibt, welche so weit davon entfernt sind, mit den Heimgesuchten Mitleid zu haben und ihnen zu helfen, daß sie ihnen vielmehr bittere Vorwürfe machen und sie belästigen. Sie machen eitles, dummes Geschwätz; ihre Worte sind tatsächlich von der Erde (vgl. Is 29,4). Sie reden in die Luft und nicht zu Ohren verständiger Menschen, welche gewöhnt sind, göttliche Lehren zu vernehmen. Sie wagen zu erklären: „Jene haben von Gott ihr Elend, wir haben von Gott unser Glück. Wer bin ich, daß ich Gottes Fügung aufheben und besser als Gott erscheinen dürfte? Sie sollen ihre Krankheit, ihr Elend, ihr Unglück haben! Es ist so bestimmt.” Nur dann, wenn sie es für notwendig halten, ihre Oboli zurückzuhalten und sich über die Unglücklichen lustig zu machen, wollen sie Gottes Freunde sein. Daß sie aber tatsächlich nicht daran denken, ihr Glück komme von Gott, ergibt sich deutlich aus ihren Reden. Wer könnte denn in solcher Weise über die Armseligen urteilen, wenn er sich bewußt wäre, daß Gott es ist, Der ihm Seinen Besitz gegeben hat? Wer es weiß, daß er etwas von Gott erhalten hat, verwendet es zugleich auch im Sinne Gottes.


30.

Ob übrigens ein Unglück von Gott verhängt wird, ist noch nicht geklärt, insofern die Materie, wie z. B. ein Fluß, auch selbst Ursache der Unordnung sein kann. Wer kann es wissen, ob der eine seiner Sünde wegen gestraft wird, und ob ein anderer, weil er Lob verdient, erhoben wird; und ob nicht vielmehr der eine wegen seiner Schlechtigkeit in die Höhe kommt, während der andere wegen seiner Tugendhaftigkeit heimgesucht wird? Der eine darf höher steigen, damit sich zuerst noch seine ganze Sündhaftigkeit gleich einer Krankheit entwickeln kann, und er dann umso schwerer falle und mit umso größerem Recht Strafe finde. Der andere wird wider Erwarten heimgesucht, damit er wie Gold im Schmelzofen geläutert und von seinen Fehlern, wenn er noch einige hat, gereinigt werde; denn überhaupt kein Menschenkind ist, wie wir gehört haben, rein von Schmutz, mag es auch ziemlich geläutert erscheinen. Jene geheimnisvolle Wahrheit finde ich auch in der Göttlichen Schrift. Doch es würde zu weit führen, alle Offenbarungen des Geistes aufzuzählen, welche mich dieses Geheimnis lehren. „Wer könnte den Sand am Meere, die Tropfen des Regens, die Tiefe des Abgrundes messen?” (Sir 1,2). Wer könnte die Tiefe der überall sich offenbarenden Weisheit ergründen, mit welcher Gott alles erschaffen hat und alles so, wie Er es will und versteht, leitet? Es genügt, mit dem trefflichen Apostel das Unerforschliche und Unfaßbare Seiner Weisheit nur bewundernd anzudeuten. „O Tiefe des Reichtums und der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich sind seine Gerichte, wie unergründlich seine Wege! Wer hat die Gedanken des Herrn erkannt?” (Röm 11,33f). „Wer ist” - um mit Hiob (Hiob 15,8) zu reden - „bis zu den äußersten Grenzen seiner Weisheit vorgedrungen?”, „Wer ist weise und wird dies verstehen?” (Hos 14,10). Wird er das Unermeßliche nicht mit ungenügendem Maße messen?


31.

Mögen andere im Urteil über Glück und Unglück verwegen und kühn sein - es wäre allerdings besser, wenn sie es nicht wären! -, ich für meinen Teil wage es nicht, ganz allgemein das irdische Unglück als Folge der Sünde, und das irdische Wohlergehen als Folge der Tugend zu erklären. Es kommt allerdings gelegentlich vor und es hat seine Bedeutung, - daß, wenn es den Sündern schlecht ergeht, die Sünde eingeschränkt wird; und daß die Tugend gedeiht, wenn die Guten Glück haben. Nicht immer und nicht allgemein, sondern erst in der Zukunft empfangen die einen für ihre Tugenden den Kampfpreis, die anderen für ihre Sünden die verdienten Strafen. „Die einen” - so heißt es (Joh 5,29) - „werden auferstehen zur Auferstehung des Lebens, die anderen zur Auferstehung des Gerichtes.” Die Verhältnisse hier auf Erden sind anders, hier herrscht eine andere Ordnung, wenn auch alle Wege nach dem Jenseits weisen. Das, was uns als Unordnung erscheint, erhält in Gott durchwegs Ordnung. Es ist wie mit den äußeren und den inneren, den größeren und kleineren Organen im Körper, oder wie mit den Erhebungen und Senkungen der Erde; die Verschiedenheit des Verhältnisses, in welchem die Teile zueinander stehen, ergibt die Schönheit und weckt ästhetisches Empfinden. Der von einem Handwerker bearbeitete Stoff ist auch zunächst noch ohne Form und Gestalt, er wird aber zu einem sehr kunstvollen Werk, sobald er etwas darstellt. Wenn wir einmal die vollendete Schönheit eines Werkes schauen, dann kommen wir zur Einsicht und lassen wir uns belehren. Gott ist im Wirken nicht so planlos wie wir; seine Werke sind nicht ohne Ordnung, weil uns der Einblick in ihre Logik mangelt.


32.

Um unseren krankhaften Seelenzustand durch einen Vergleich zu veranschaulichen: wir sind ähnlich denen, welche von Seekrankheit und Schwindel erfaßt sind und welche meinen, alles drehe sich, während sie sich doch selbst drehen. So geht es denen, von welchen wir sprechen. Sie wollen nämlich, wenn gewisse Ereignisse ihnen Schwindel verursachen, nicht zugeben, daß Gott weiser ist als sie. Ihre Pflicht wäre es, entweder mühsam nach dem tieferen Grund zu forschen, da vielleicht mühsames Suchen mit der Wahrheit belohnt wird, oder bei solchen, die mehr Weisheit und Geist als sie selber besitzen, sich Rat einzuholen - da ja auch dies eine Gnadengabe ist und Erkenntnis nicht allen geschenkt ist -, oder endlich sich Erkenntnis durch Reinheit des Lebens zu erwerben und Weisheit von der wahren Weisheit zu erbitten. Jene aber halten sich in ihrer Torheit an das Näherliegende und machen sich weis, in der Welt herrsche der Unverstand; denn sie verstehen nicht den Verstand. Sie sind weise in ihrer Dummheit, oder vielmehr, sie sind wegen ihrer übergroßen Weisheit - um mich so auszudrücken - unweise und unverständig. Daher haben die einen angenommen, es gebe einen Zufall und ein blindes Geschick. Wirklich blinde, vom Zufall ersonnene Ideen! Sie glauben an eine blinde, zwingende Herrschaft der Gestirne, welche nach ihrem Willen, bzw. mit Notwendigkeit unser Leben leiten. Sie betonen die Konstellation der Planeten und Fixsterne und eine alles beherrschende Bewegung. Andere haben, dem armen Menschengeschlechte ihre Einfälle lehrend, das Unerreichbare und Unfaßbare der Vorsehung dadurch näher zu bringen gesucht, daß sie in den Lehren und Bezeichnungen Unterscheidungen machten. Manche haben die Vorsehung sogar zu großer Armut verurteilt, indem sie zwar annahmen, daß das, was über uns ist, von ihr geleitet wird, - aber Bedenken trugen, die Vorsehung auch auf uns, die wir doch vor allem deren bedürfen, auszudehnen - gerade als ob sie gefürchtet hätten, sie könnten den Wohltäter, wenn sie ihm zu viel Wohltaten zuschreiben, zu gut machen; oder Gott möchte ermüden, wenn er zu vielen Gutes erweist.


33.

Doch lassen wir jene, wie gesagt, beiseite, da schon die Schrift dieselben abgewiesen hat mit den Worten: „Ihr unverständiges Herz ist eitel geworden; wenn sie behaupten, sie seien weise, sind sie Toren. Die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes haben sie vertauscht” (Röm 1,21f), indem sie mit nebelhaften Sagen die alles beherrschende Vorsehung entehrten. Wir aber wollen weder selber solche wunderliche Dinge ersinnen, sofern wir als vernünftige Wesen und Verehrer der Vernunft für Logik Verständnis haben, noch wollen wir den Glauben jener Leute annehmen, mag auch ihre Zunge die albernen Behauptungen und Lehren recht geschickt darstellen und durch die Neuheit anziehend wirken. Wir wollen vielmehr glauben, daß der, welcher alles geschaffen und gemacht hat, Gott ist. Wie könnte denn das Weltall bestehen, wenn nicht einer ist, der ihm Sein und Ordnung verliehen hat? Wir wollen auch an eine Vorsehung glauben, welche dieses Weltall zusammenhält und vereint; denn der Schöpfer muß für seine Werke sorgen. Sollte aber das Weltall von blindem Zufall getragen werden, dann würde es, da der Materie die Ordnung fehlt, gleich einem vom Sturm erfaßten Schiffe sofort in Trümmer zerfallen und ins alte Tohuwabohu zurückkehren. Wir wollen daran festhalten, daß vor allem unser Leben von unserem Schöpfer oder - wenn dir der Ausdruck lieber ist - von unserem Bildner geleitet wird, mag auch unser Leben durch Gegensätze gehen, welche uns vielleicht deshalb unverständlich bleiben, damit uns unsere Unkenntnis zur Bewunderung der höchsten Weisheit führe. Denn alles, was leicht erfaßt wird, wird leicht verachtet, während das, was über uns ist, um so mehr Bewunderung findet, je schwerer es zu erreichen ist, und all das, was sich unserem Verlangen entzieht, die Sehnsucht weckt.


34.

Wir wollen daher nicht jeden Gesunden bewundern, aber auch nicht den Kranken verachten. Nicht wollen wir uns an den vergänglichen Reichtum hängen, mehr als recht ist, dem Vergänglichen mit dem Herzen ergeben und mit dem Vergänglichen gewissermaßen einen Teil der Seele verzehrend. Nicht wollen wir die Armut verfolgen, als wäre sie etwas ganz Abscheuliches und Fluchwürdiges oder als wäre in ihr ein Los zu sehen, das wir hassen müssen. Wir wollen es lernen, eine törichte Gesundheit, deren Frucht die Sünde ist, zu verachten und eine heilige Krankheit zu ehren; wir wollen diejenigen schätzen, welche im Leiden gesiegt haben, und bedenken, in den Leidenden kann ein Job verborgen sein, der viel ehrwürdiger ist als die gesunden Menschen, mag er auch seine Geschwüre abschaben müssen (Hiob 2,8), mag er auch Tag und Nacht unter freiem Himmel darben, von Krankheit, dem Weibe und den Freunden bedrängt. Ungerechten Reichtum wollen wir zurückweisen, der schuld daran ist, daß der Reiche in den Flammen mit Recht leidet und um einen kleinen Tropfen Wasser zur Abkühlung bittet (Lk 16,24). Dankbare und weise Armut wollen wir preisen; sie hat Lazarus gerettet und mit der Ruhe in Abrahams Schoß beschenkt.


35.

Mir scheint Barmherzigkeit und Mitleid mit den Dürftigen auch deshalb notwendig zu sein, um die Unbarmherzigen zum Schweigen zu bringen und törichten Reden nicht einen Sieg zu lassen, welcher die Grausamkeit gegen uns selbst zum Gesetze erheben würde. Wir müssen mehr Achtung vor den Geboten und Beispielen aller haben. Wie lauten ihre Gebote? Sie sind, worauf ihr zu achten habt, immer ein und dieselben. Denn nicht haben die Männer des Geistes, nachdem sie ein oder zweimal ihre Forderung bezüglich der Armen gestellt hatten, ihre Forderung geändert. Auch haben nicht die einen das Gebot gegeben, die anderen nicht, noch haben die einen dasselbe mehr, die anderen weniger betont, als wenn es sich nicht um ein bedeutendes Gebot und nicht um eine zwingende Notwendigkeit handeln würde. Vielmehr haben alle dasselbe mit gleichem Nachdruck als erste oder eine der ersten Forderungen erlassen, bald in der Form von Mahnungen, bald in der von Drohungen und Zurechtweisungen; bisweilen auch haben sie die, welche ihre Pflicht taten, belobt, um ja durch andauerndes Drängen ihre Forderung wirksam zu machen. „Wegen des Elendes der Armen und der Bedrängung der Notleidenden will ich mich nun erheben, spricht der Herr.” (Ps 11,6). Wer sollte nicht den Herrn fürchten, wenn er sich erhebt? „Herr, mein Gott erhebe dich, deine Hand strecke sich aus, vergiß nicht der Armen! (Ps 9,33). Wir wollen uns vor solchem Ausstrecken sicherstellen, nicht wollen wir darnach verlangen, zu sehen, wie sich seine Hand gegen die Ungehorsamen erhebt, bzw. wie schwer sie auf den Hartherzigen ruht. „Nicht vergaß ich des Geschreies der Armen.” (Ps 9,13). „Nicht vollständig wird der Arme vergessen werden.” (Ps 9,19). „Seine Augen schauen auf den Armen; seine Augenlider forschen nach den Kindern der Menschen.” (Ps 10,4). Der Blick mit den Augen ist wichtiger und mächtiger; das Schauen mit den Augenlidern ist sozusagen unbedeutender und geringer.


36.

Vielleicht möchte jemand einwenden, diese Worte seien zugunsten jener gesprochen, welche in Armut und Dürftigkeit Unrecht erleiden müssen. Es mag sein. Doch lasse dich auch durch folgende Erwägung zum Mitleid bewegen! Wenn jenen Unrecht geschieht, ist die Sorge (Gottes) so groß; wenn jene aber Gutes erfahren, ist (Gottes) Dank offenbar noch großer. Wenn der, welcher einen Armen verachtet, den Schöpfer zum Zorne reizt (Spr 17,5), dann ehrt den Schöpfer der, welcher sich seines Geschöpfes annimmt. Wenn du (das Schriftwort) hörst: „Der Arme und der Reiche begegnen sich; beide hat der Herr erschaffen” (Spr 22,2), dann darfst du nicht meinen, der Herr habe den einen als Armen, den anderen als Reichen erschaffen, damit du dich noch mehr über den Armen erhebst. Denn es steht nicht fest, daß jene Verschiedenheit von Gott komme. Vielmehr sind - so will die Schrift sagen - beide in gleicher Weise Gottes Geschöpfe, mögen auch ihre äußeren Verhältnisse verschieden sein. Lasse dich durch diese Erwägung zu Mitleid und Bruderliebe bewegen! Während der erste Teil (der Schriftworte) dich stolz machen könnte, soll der zweite Gedanke dich demütigen und bescheidener machen. Weiter heißt es in der Schrift: „Wer sich des Armen erbarmt, leiht Gott auf Zinsen.” (Spr 19,14). Wer sollte einen solchen Schuldner zurückweisen, der das Darlehen zur Zeit mit Zinsen zurückgibt? Wiederum steht geschrieben: „Durch Barmherzigkeit und Treue wird man von Sünden gereinigt.” (Spr 15,27).


37.

Zeigen wir daher Mitleid, um gereinigt zu werden! Den Schmutz und die Flecken der Seele wollen wir mit diesem schönen Pflänzchen beseitigen. Wir wollen weiß wie Wolle, bzw. wie Schnee werden, je nachdem wir Barmherzigkeit erwiesen haben. Ich will noch einen packenden Gedanken vorlegen: Wenn du auch keinen Beinbruch, keine Strieme, keine entzündete Wunde hast, auch die Seele nicht an Aussatz leidet und du keinen Ausschlag, der Aussatz vermuten läßt oder deutlich zeigt, hast, welcher, wenn ihn auch das Gesetz rasch rein erklärte (vgl. Lev 13 u. 14), gleichwohl des kommenden Heilandes bedurfte, so erschrick doch in Ehrfurcht vor dem, der unsertwegen verwundet und mißhandelt worden ist! In Ehrfurcht wirst du aber erschrecken, wenn du dich gegen das Glied Christi gut und mitleidig zeigst. Sollte jedoch etwa der Räuber und Tyrann unserer Seelen dich, entweder da du von Jerusalem nach Jericho hinabgingst oder da er dich sonst irgendwo unbewaffnet und ungerüstet fand, in einer Weise zugerichtet haben, daß du mit Recht sagen kannst: „Meine Striemen riechen und faulen infolge meiner Torheit” (Ps 37,6), solltest du so schlecht daran sein, daß du nicht einmal Heilung suchst und daß du gar nicht den Weg zur Gesundung kennst, dann steht es wahrlich schlimm mit deinen Wunden, und geht dein Elend in die Tiefe. Wenn du dich aber noch nicht vollständig verloren gibst und noch Hoffnung auf Heilung hast, dann gehe zum Arzte, bitte ihn und heile die Wunden durch die Wunden; erwirb das Ähnliche durch das Ähnliche, bzw. heile das Größere durch das Geringere! Der Herr wird zu deiner Seele sprechen: „Ich bin dein Heil” (Ps 34,3), „dein Glaube hat dir geholfen” (Mt 9,22) und „siehe, du bist gesund geworden” (Joh 5,14). Alle diese tröstenden Worte wird er zu dir sprechen, wenn er nur sieht, daß du für die Notleidenden ein Herz hast.


38.

Der Herr sagt: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit finden.” (Mt 5,7). Barmherzigkeit ist nicht die geringste unter den Seligkeiten. Und selig ist, wer Verständnis hat für den Dürftigen und Armen” (Ps 40,1). Und „selig der Mann, der sich erbarmt und gibt” (Ps 111,5). Und „den ganzen Tag erbarmt sich der Gerechte und leiht aus” (Ps 36,26). Reißen wir den Segen an uns, lassen wir uns als verständig bezeichnen, seien wir milde! Selbst die Nacht soll dich nicht im Gutes Tun unterbrechen. Sage nicht: „Komme wieder, morgen werde ich dir geben!” (Spr 3,28). Nichts trete zwischen den Vorsatz und die Ausführung der Wohltaten! Nur Barmherzigkeit duldet keinen Aufschub. „Brich dem Hungernden dein Brot, führe die armen Obdachlosen in dein Haus” (Is 58,7) und zwar mit Bereitwilligkeit! Denn es heißt: „Wer sich erbarmt, tue es mit Freude!” (Röm 12,8). Durch die Bereitwilligkeit verdoppelt sich der Wert deiner Wohltat. Was mit Bitterkeit und gezwungen geschieht, entbehrt der Freundlichkeit und Gefälligkeit. Wohltaten sollen Freuden und nicht Tränen hervorrufen. „Wenn du - wie es heißt (vgl. Is 58,6) - die Fessel wegnimmst” und nicht wählerisch bist, d.h. nicht kleinlich und empfindlich, nicht zögernd und mürrisch, was wirst du ernten? Großes und Wunderbares! Herrlich und reichlich ist dein Lohn. „Am Morgen wird dein Licht hervorbrechen, und schnell wird deine Heilung kommen.” (Is 58,8). Wer sollte sich nicht nach Licht und Heilung sehnen?


39.


  1. Auf mich macht Eindruck die Kasse, welche Christus hatte führen lassen (Joh 12,6; 13,29), und durch welche er uns zur Armenfürsorge auffordert, ferner das einmütige Verhalten von Paulus und Petrus, von welchen zwar jeder in der Predigt des Evangeliums seinen eigenen Weg ging, welche aber gemeinsam sich der Armen annahmen (Gal 2,9f), endlich die Vollkommenheit des (reichen) Jünglings, welche nach der Vorschrift (Jesu) sich darin zeigen sollte, daß sie gab und Gutes den Armen schenkte (Mt 19,21). Glaubst du vielleicht, Nächstenliebe sei freigestellt und nicht Pflicht, sei nur Rat und nicht Gesetz? Auch ich hatte den ganz gleichen Wunsch und die gleiche Meinung. Doch mich schrecken die linke Hand (des göttlichen Richters), die Böcke und die Strafworte, welche ihnen der Richter zuruft; nicht waren sie ja wegen Diebstahl oder Tempelraub oder Ehebruch oder wegen der Übertretung eines sonstigen Verbotes verurteilt worden, sondern weil sie nicht in den Notleidenden Christus gedient hatten (Mt 25,31ff).


40.

Wenn ihr, Diener, Brüder und Erben Christi, nun auf mich hören wollt, dann wollen wir, solange es noch Zeit ist, Christus besuchen, Christus heilen, Christus ernähren, Christus bekleiden, Christus beherbergen, Christus ehren, aber nicht nur durch Bewirtung, wie es einige getan haben, und nicht gleich Maria mit Salben (Lk 7,37f; Joh 12,3) und nicht bloß durch ein Grab wie Joseph von Arimathea (Joh 19,38), auch nicht durch Geschenke für die Beerdigung gleich Nicodemus (Joh 19,39), der ein heiliger Christ war, auch nicht mit Gold, Weihrauch und Myrrhen, wie es vor den Genannten die Magier getan hatten. Da der Herr der Welt Barmherzigkeit will und nicht Opfer (Mt 9,13), und da Mitleid mehr Wert hat als Tausende von fetten Lämmern, so wollen wir ihm in den Notleidenden, die heute niedergestreckt sind, Barmherzigkeit zeigen, damit sie, wenn wir von hier scheiden müssen, uns in die ewigen Zelte aufnehmen in Christus, unserem Herrn, dem die Ehre sei in alle Ewigkeit. Amen!




Quellen:


- Λόγος ιδ’. Περὶ φιλοπτωχίας. (PG 35, σελ. 857 – 909).